Dr. Renate Engel ist von Andrea Bracht in der IVZ zu Kant interviewt worden. Natürlich wird niemand Kant gerecht, wenn er so kurz mal eben raushauen soll, was an Kant dran ist. Das bedeutet aber auch nicht, dass man so falsch liegen sollte. Aber lassen wir die Interviewte zu Wort kommen:
Als erstes möchte ich den Begriff der Menschenwürde nennen. Kant sagt: Eine Sache hat einen Preis. Aber eine Person, die zu sich selber “Ich” sagen kann, die Verantwortung übernehmen kann, hat Würde. Und die Menschenwürde ist unantastbar.
[Frage Andrea Bracht:] “Die Würde des Menschen ist unantastbar” ist der Artikel unseres Grundgesetzes. Den verdanken wir Kant?
Sehr gute Frage. Die Anwort ist Nein. Mir ist auch unbekannt, dass Kant zwischen Personen, die zu sich selber “Ich” sagen können, und solchen, die das nicht können, moralisch unterschieden hätte. Zur Bestimmung einer Verletzung der Menschenwürde wird von deutschen Gerichten oftmals die Objektformel herangezogen, die sich an Kant anlehnt. Im Wortlaut Kants wird klar, worauf er aus ist:
Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. […] was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen innern Werth, d. i. Würde. (Kant, AA IV, 434f.)
Offenbar können Menschen nach Kant eben auch Preise haben, wie Fussballspieler Ablösesummen, sie haben eben zudem auch eine Würde.
Worauf ich mit diesem ganzen Artikel hinaus will: Heutzutage legt anderen Personen, gerade wenn sie tot sind und sich nicht wehren können, sehr leicht Dinge in den Mund, die sie nicht behauptet haben. Wie z.B. dass Kant
uns Menschen auffordert, selbständig zu philosophieren, anstatt Wissen von Philosophen in uns anzuhäufen.
Wo soll Kant denn sowas gesagt haben? Selbst philosophieren, statt Wissen von Philosophen anzuhäufen? Kant hat eigentlich selbst das Gegenteil getan: Jahrelang sich an anderen abgearbeitet, und mit diesem Wissen seine eigene Philosophie aufgebaut.
Kommen wir zum angeblichen Freiheitsbegriff Kants:
[B]in ich frei genug, über meinem Impuls zu stehen und anders zu handeln, als ich es spontan tun würde? Das ist die Idee der Freiheit, wie Kant sie verstanden hat.
Nein, ist es nicht. Kant definiert 6 Freiheitsbegriffe, die zu erläutern an dieser Stelle nicht nötig ist. Zu diesen zählt die oben gewählte Formulierung nicht. Die gestellte Frage, kann ich über meinem Impuls stehen und anders handeln als ich spontan handle, ist keine, die Menschen nach Kant überhaupt beantworten können. Wer so etwas behauptet verliert, den weisen Biologen berechtigt darauf hin, dass Menschen Handlungen initiieren, bevor diese dem Menschen im Geiste bewußt werden. Kurzum: Wäre das Kants Freiheitsbegriff, wäre er wohl nicht haltbar.
Der Kategorische Imperativ. So in aller Munde und doch so kaum verstanden. Angeblich
ein nicht inhaltlich gebundenes Prüfungsverfahren. Das heißt, mir wird nicht inhaltlich gesagt: Du sollst nicht töten. Sondern es wird gesagt: Prüfe, ob die Richtlinie, nach der Du jetzt in dieser Situation handeln möchtest, ein allgemeines Gesetz werden könnte. Ein Gesetz, das für jeden gilt, immer und auf der ganzen Welt. Wenn ja, dann kann ich danach handeln — oder zumindest sagen: Das wäre eine moralisch gute Handlung nach Kant.
Falsch. Alles kann nach Kant ein Gesetz werden, im juridischen Sinne. Die Frage im Einzelfall ist, ob die individuelle Person dies wollen kann, genauer gesagt: widerspruchsfrei wollen kann. Kant zielt hier auf die nicht bloß subjektive Einschätzung einer Handlung, nicht auf die Installation eines Gesetzes. Zudem: Kant ist vorsichtig bei moralisch guten Handlungen. So einfach wie im Zitat beschrieben, würde Kant nicht von moralisch guten Handlungen sprechen, da Menschen parteiisch sein und sich irren können.
Kant hat den Glauben zu einer Sache jedes Einzelnen gemacht.
Oh, das muss ein ganz neues Ergebnis der Kantforschung sein. Aber ich denke, damit schustert man Kant schlicht zu viel zu.
Und so müssen wir — wenn wir Gott nicht zu einem wissbaren Ding machen wollen, darauf vertrauen, dass wir ihn als gute Macht in unserem Handeln praktisch verwirklichen.
An dieser Stelle sollte mal herausgehoben werden, dass dies eine Privatmeinung ist und mit Kant nichts zu tun hat. Als I‑Tüpfelchen fasst die Journalistin dann das, was sie für den Kategorischen Imperativ hält, so zusammen:
Man soll also stets rational handeln.