Davide Morosiotto war bereits 2018 für den Deutschen Jugendbuchpreis mit dem Roman Die Mississippi-Bande nominiert und kann mit diesem Nachfolger problemlos als Anwärter für den diesjährigen Preis gehandelt werden.
Morosinottos neuer Roman handelt von den Zwillingen Viktor Danilow und Nadja Danilowa, die in den Wirren des Zweiten Weltkrieges beim Bestreben Leningrad zu verlassen, von einander getrennt werden. Beide führt ihre Odyssee zurück in die Nähe Leningrads, das durch die Belagerung der Deutschen Wehrmacht, die die Stadt auszuhungern versucht, immer intensiver von Krieg und Tod gezeichnet wird.
Dem italienischen Schriftsteller gelingt es durch sein fesselndes Erzählen Jugendlichen mit einer dauernd todesnahen Abenteuergeschichte einen interessanten Zugang zu einem schwer verständlichen und verstörenden Teil der Weltgeschichte zu legen.
Ob der auch durch viele Grafiken optisch und inhaltlich aufgewertete Roman schon für 12-jährige geeignet ist, wie der Verlag annimmt, sollten wohl Eltern selbst überdenken, denen die Lektüre hiermit auch ans Herz gelegt wird.
Davide Morosinotto: Verloren in Eis und Schnee. Die unglaubliche Geschichte der Geschwister Danilow. Erschienen als gebundene Ausgabe bei Thienemann und als Hörbuch bei cbj audio.
Carolin Emcke befasst sich in ihrem aktuellen Buch mit den aufkeimenden und gediehenen nationalistischen Positionen in Deutschland und darüber hinaus, wobei sie einen Akzent setzen möchte für die Verteidigung von Minderheiten im Lichte des Populismus dieser Zeit. Sie brilliert an den Stellen, an denen sie Positionen als diskriminierend und polemisierend demaskiert, indem sie die Position unaufgeregt entschlüsselt.
Weniger überzeugend ist Emcke allerdings in ihrer Einordnung von Positionen in einen historischen oder wissenschaftlichen Kontext. So bestimmt sie die “Parteilichkeit der Verstandeswaage” aus einer Textstelle aus Kants “Träume eines Geistersehers”, d.i. ein Text vor dessen so genannter kritischen Phase, als “Voreingenommenheit durch die Hoffnung”, wobei es an der betreffenden Stelle im Kantischen Text überhaupt nicht um Hoffnung geht. Um Hoffnung geht es bei Kant in der Religionsphilosophie. So ein Namedropping ist so wenig überzeugend wie beeindruckend.
Und auch wenn andere Stellen in ihrer gewollten Belehrung eher nerven als einnehmen, ist das Buch wegen der Analysefährigkeit der Autorin empfehlenswert.
Dieses Buch ist ein Jugendbuch, das wegen seines Witzes und der Kürze seiner Einzelepisoden durchaus auch für Erwachsene interessant ist:
Herc’ wird nach dem Tod seines Vaters zu seinem Onkel geschickt. Und der stellt ihm für die Zeit seines Aufenthalts 12 Aufgaben, die er wie sein Namensgeber Tag für Tag zu bewältigen hat:
Such dir eine Aufgabe.
Finde den besten Pizzaladen der Stadt.
Räum die Garage auf.
Miste die Ställe auf der Riverbend Farm aus.
Setz dich unter einen Baum und lies ein kompettes Buch.
Begib dich an einen Ort der Huldigung und des Gebets.
Geh zu sieben Bewerbungsgesprächen.
Verbring den Tag mit großen Gedanken, Schreib sie auf.
Iss eine Mahlzeit mit einem Unebkannten.
Mach etwas für mich.
Trag auf der Mitternachtslyriklesung im Blake’s Coffee Shop ein Gedicht vor.
Beende deine Aufgabe.
Die Geschichten behalten dank guter Übersetzung von Uwe-Michael Gutzschhahn den mitunter schroffen Stil des Originals und erheitern durch wiederholte Aushebelung der Erwartungen des Lesers.
»Direkt, knapp und kraftvoll erzählt James Proimos vom Verlorensein und Scheitern, vom Verstehen und Neuzusammensetzen.« Die Zeit
Dieses Buch wurde in Dänemark schon 2000 aufgelegt, schaffte es aber erst 2010 in deutscher Übersetzung in hiesige Bücherläden. In Dänemark verursachte das Buch einen kleinen Skandal — und das nicht ohne Grund.
Das Buch handelt von einer Gruppe Jugendlicher, die sich von einem ihre Mitschüler provoziert fühlt. Dieser steht einges Tages in der Klasse auf und verkündet, dass seiner Meinung nach nichts in der Welt von Bedeutung sei. Daraufhin schaffen die Jugendlichen einen Schrottberg, auf dem sie Dinge verbrennen, die ihnen wichtig sind. Die Aktion artet in psychischer und körperlicher Gewalt aus.
Janne Tellers Roman, zu dem es bei Wikipedia eine ausführliche Inhaltsangabe gibt, besticht durch sprachliche Präzision und einer nervenaufreibenden Geschichte. In bezug auf Jugendgewalt ist der Roman nicht zimperlich, was für einige, aber sicherlich nicht alle Jugendliche realitätsfern ist. Insofern ist dieser Buchtipp vielleicht nicht für jeden Schüler etwas, aber gerade für eine Befassung mit dem Thema Jugendgewalt und Werte ist das Buch eine geeignete Vorlage.
Mary Scherpe ist eine bekannte Modebloggerin. Und sie hat einen Stalker. Der schickt ihr tagtäglich irgendwelche Dinge, mischt sich in ihre Privatleben ein, kontaktiert Freunde, verfolgt sie. In diesem Buch schreibt sie nieder, was passiert ist. Wie sie versucht hat, ihn zu bremsen, ihn zu verstehen, ihm zu helfen. Wie sie scheiterte und wie es ihr zusetzte.
Die Stärke des Buches ist, dass Scherpe nicht in feministische Klischees abwandert, ihre eigene Rolle nicht merklich schönschreibt und sprachlich sehr gut formuliert. So ist der Leser erstaunt, was ihr alles widerfährt, aber auch irritiert, weswegen sie ihn vor Freunden ernsthaft als Affäre kaschiert oder versucht, sich seines Problems anzunehmen.
Das Buch ist nicht moralisierend, nicht objektiv, aber offen und schildert, wie Stalking heutzutage vonstattengeht. Und es ist ein Plädoyer dafür, sich zu wehren, wenn man angegangen wird.
Dieses Buch ist eine Art Road-Movie zwischen Buchdeckeln quer durch Russland und die Ukraine. Mühling ist auf der Suche nach wahren Geschichten, von denen ihm ein Freund mal sagte, es gäbe sie nur in Russland zu finden. So macht er sich eines Tages auf den Weg, Agafja Lykowa zu treffen, was sich als waghalsiges, wenn nicht gar lebensgefährliches Abenteuer erweist.
Man lernt in diesem Buch vieles über die Geschichte Russlands und einiges über den Umgang mit Russen. Agafja Lykowa ist wohl die Dame in diesem Video:
Ein sehr lesenswerter Schmöker für alle, die mal einen Blick über den Tellerrand wagen wollen.
Jule ist ein junges Mädchen, das mit ihrer Band beim Schulfest auftreten soll. Dann erhält sie jedoch anonyme E‑Mails, Beschimpfungen und Drohungen. Ein Fake-Profil von ihr taucht im Internet auf und ihr wird nahe gelegt, die Band zu verlassen. In dieser starken Bedrängnis kommt es schließlich zur gewalttätigen Auseinandersetzung.
Das Buch von Agnes Hammer behandelt ein sehr aktuelles Thema: Die Problematik, dass Jugendliche einerseits in der realen und andererseits in der virtuellen Welt unterwegs sind, und es schwierig wird, wenn Probleme der einen Sphäre mit der anderen in Berührung kommen.
Was der Leser schnell merkt, ist, dass es sich hierbei um eine klassische Schullektüre handelt, und das ist auch schon das Manko des Buches, wenn man so will: Die Geschichte ist überraschungsarm, vorhersehbar, das klassische Problem, dass die jugendliche Erzählerin mit mitunter arg verschachtelteln Sätzen alles andere als jugendlich klingt, sowie dass sich die Akteure für Jugendliche doch sehr abgeklärt verhalten. Bei erotischen Situationen wirkt die political correctness dann schon mal belustigend.
Aber als Schullektüre, und für eine kommunikative Behandlung durch Jugendliche ist das Buch, das einen für Jugendliche sehr fairen Preis hat, sicherlich hervorragend geeignet.
Weihnachten steht vor der Tür und vielerorts werden nun die Buchläden durchstöbert, um interessante literarische Sachen ausfindig zu machen. Ich habe mir mal Netzgemüse von Tanja und Johnny Haeusler, der auch unter spreeblick.de bloggt, angeschaut. In diesem Fall ist es vielleicht hilfreich, die beiden erst selbst zu Wort kommen zu lassen:
Jetzt kann man zunächst einmal feststellen, dass es hier eine dicke Marktlücke gibt. Das Internet ist in vielen Facetten nicht leicht zu verstehen. Das macht besonders dann Probleme, wenn Eltern darüber nachdenken, wie sie ihre Kinder im Internet begleiten. Und das tut Not, denn im Internet lauern rechtliche und persönliche Gefahren. Andererseits bewegen sich Internetnutzer ziemlich frei und ungebunden durch das Netz. Worauf sollen sich Eltern daher einstellen?
Das ist in etwa die Frage, der das Ehepaar Haeusler nachgeht. Sicherlich ist das Buch so geschrieben und wird so präsentiert, dass es sich irgendwie rentiert. Insofern ist dieser Eintrag auch schon wieder eine Form von Werbung. Aber andererseits bin ich davon überzeugt, dass das Buch die Aufgabe, Eltern für ihre Aufgabe, Kinder im Umgang mit dem Internet verantwortungsvoll zu begleiten, gut erfüllt.
Jetzt könnte ich auch am Buch rummosern über manchen grammatisch nicht ganz so perfekten Satzbau, verkürzte und somit falsch wirkende Darstellungen oder den Begriff Netzgemüse, der mich das ganze Buch gestört hat. Da mein Fokus aber darauf gerichtet ist, herauszufinden, ob dieses Buch Eltern eine Hilfe sein kann, schiebe ich das mal ganz beiseite.
Und wenn das erstmal beiseite geschoben ist fällt zunächst die große Bandbreite auf, die das Buch umfasst: Es handelt den Umgang mit Computerspielen, illegale Downloads, Internetdiensten, Blogs, Mobbing, Pseudonymen, sozialen Kompetenzen, Taschengeld, Smartphones und und und ab. Ich habe auf Anhieb nichts gefunden, was ich vermisse. Alle Themen werden zwar nur angerissen und Beispiele und Lösungsansätze von wirklich schwierigen Problemen kommen nicht vor. Das ist aber für ein Eisntiegsbuch in die Materie nicht weiter schlimm. Die Frage wäre eh, ob man ein solches Buch nicht überfrachtete, wenn man zu viele Lösungen anbieten wollte.
Was ich sehr überzeugend finde, ist, dass die Autoren heikle Themen wie Pornografie im Internet, die von Jugendlichen konsumiert werden kann, nicht umschiffen.
Das Buch braucht zwar etwa 100 Seiten um richtig in Schwung zu kommen, trifft aber dann den richtigen Ton. Wer also Eltern kennt oder selber erzehungsberechtigt ist, dem lege ich dieses Buch wärmstens ans Herz.
Sven Regener ist der Sänger und Songschreiber von Element of Crime. Daneben hat er vor ein paar Jahren angefangen, Bücher zu schreiben. Herr Lehmann ist mit großem Erfolg verfilmt worden. Neue Vahr Süd mit etwas weniger Erfolg, der dritte Roman Der kleine Bruder gar nicht.
Auch im Internet ist Regener unterwegs und hat an verschiedenen Orten im Internet Blogs hinterlassen. Man kann das im Internet (s.u.) direkt nachlesen oder sich sein viertes Buch Meine Jahre mit Hamburg-Heiner kaufen, in dem alle bisherigen Blogs versammelt sind.
Das Buch kostet neu 19,95€, gebraucht etwas weniger. Man erfährt zwar nicht sonderlich viel aus dem Leben eines Unterhaltungskünstlers, aber ab und an sind die Texte schon witzig und unterhaltsam.
Alina Bronskys Debutroman handelt von Sascha, 17, die ein Buch über ihre Mutter schreiben will und ihren Stiefvater töten möchte. Diese doch eher merkwürdigen Ziele erklären sich aus dem Umfeld, in dem sie sich behaupten muss: Sascha ist Immigrantin aus der Sowjetunion und muss sich im Ghetto rund um den Scherbenpark zurecht finden:
Hier geht es laut, blutig und derb zu. Der Scherbenpark ist ein Ort der Kollisionen. Hier kracht es zwischen Ost und West, Männern und Frauen, Reich und Arm, Jung und Alt. Hier wird russischer Pop gespielt und alte Kriegslieder. Nicht wegzudenken sind Jugendgangs, Gepanschtes in Pappbechern, immer wieder ein Schachspiel und der Abreißkalender für die orthodoxe Hausfrau. Hier fliegen Steine und leere Flaschen. Und hier lebt Sascha.
Weil eine Zeitung ihre Geschichte aufnimmt, kommt sie in Kontakt zum Redakteur Volker und seinem Sohn, zwischen denen sie sich hin und her gerissen fühlt.
Scherbenpark ist das bestgeschriebenste, einfallsreichste, treffenste und humorvollste in deutscher Sprache geschriebene Buch der letzten Jahre, das mir in den Sinn kommt. Eine Mileustudie im sowjet-deutschen Migrantenmillieu, das durch seine temperamentvolle Erzählweise für Jugendliche und Erwachsene spannend ist.